Flucht in Europa: „Wir brauchen in allem, was wir tun, einen Kompass“

  • 25.10.2022
  • Ekkehard Rüger
  • Ansgar Gilster, Rafael Nikodemus

Mehr als 70 Flüchtlingsexpertinnen und -experten der Kirchen, Wohlfahrtsverbände und von Nichtregierungsorganisationen haben anlässlich der 16. Europäischen Asylrechtskonferenz der Kirchen vom 17. bis 21. Oktober in Warschau getagt. Für die Evangelische Kirche im Rheinland war der theologische Dezernent Rafael Nikodemus (62), unter anderem zuständig für Menschenrechtsfragen, Flucht und Migration, unter den Teilnehmenden aus 15 europäischen Ländern und den USA.

 

Der inzwischen abgeriegelte Grenzübergang Kuźnica an der polnisch-belarussischen Grenze.
Der inzwischen abgeriegelte Grenzübergang Kuźnica an der polnisch-belarussischen Grenze.

Herr Nikodemus, im Rahmen der Konferenz haben Sie an einer Exkursion an die polnisch-belarussische Grenze teilgenommen. Mit welchen Eindrücken sind Sie zurückgekehrt?
Rafael Nikodemus:
Es war sehr erschreckend. Wir waren am Grenzübergang Kuźnica, der vor einem Jahr durch die Medien ging. Damals sollten 4000 Flüchtlinge vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko über die Grenze getrieben werden, wurden dann aber ebenfalls sehr rigoros von den polnischen Grenzschützern abgewehrt. Im Niemandsland zwischen den beiden Staaten sind zum Teil Menschen verdurstet, verhungert oder erfroren, ohne dass es von europäischer Seite nennenswerte Proteste gegeben hätte. Diese Grenze ist nicht nur seit einem Jahr geschlossen, sondern mittlerweile auch mit einem mehr als fünf Meter hohen Zaun abgeriegelt und elektronisch abgesichert.

Der Grenzzaun an der polnisch-belarussischen Grenze.
Der Grenzzaun an der polnisch-belarussischen Grenze.

Funktioniert die Abschottung denn?
Nikodemus:
Nein, es gibt täglich Pushbacks, also völkerrechtswidrige Zurückschiebungen. Pro Woche werden von den NGOs 100 bis 150 Menschen hinter der Grenze aufgegriffen und versorgt. Nach Angaben der polnischen Grenzschützer sind allein in der ersten Oktoberhälfte 1252 Menschen über die belarussische Grenze nach Polen gekommen. Und das sind nur die registrierten.

Eine andere Gruppe der Konferenz war an der polnisch-ukrainischen Grenze. Mit anderen Erfahrungen?
Nikodemus:
Sie haben das absolute Gegenteil erlebt. Auch die Stimmung in Warschau, wo es ja sehr viele ukrainische Flüchtlinge gibt, ist eine ganz andere. Der polnische Staat hat von Beginn an alles unternommen, um diese gigantische Herausforderung so zu meistern, dass es glattgeht. Bis jetzt hat es mehr als 8,7 Millionen Grenzübertritte in Richtung Polen gegeben. Davon sind 1,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer dauerhaft geblieben. Die ganze Gesellschaft macht das möglich. Die Begründung dort ist: Das sind Gäste und keine Flüchtlinge.

Die Asylrechtskonferenz hat vor einer Zweiklassenmentalität gewarnt. Gibt es diese Mentalitätsunterschiede auch in anderen Teilnehmerländern?
Nikodemus:
Ähnliche Erfahrungen werden aus Griechenland, von der bosnisch-kroatischen und der ungarisch-serbischen Grenze sowie vom Mittelmeer berichtet. Das Besondere in Polen ist, dass dieses unterschiedliche Denken oft in ein und derselben Person stattfindet. Man erlebt Polinnen und Polen, denen das Herz aufgeht, wenn sie von Menschen aus der Ukraine sprechen, und dann fällt bei ihnen eine Klappe, wenn es um Geflüchtete aus Afghanistan geht. Und es ist auch längst nicht mehr so, dass wenigstens das EU-Recht versucht, die Wirklichkeit zu ändern. Stattdessen werden die Asylgesetze an die Wirklichkeit angepasst. Auf EU-Ebene wird zurzeit eine Verordnung diskutiert, die vorsieht, dass sich ein Mitgliedsstaat sehr schnell auf eine Ausnahmesituation berufen kann, um die Asylgesetze außer Kraft setzen zu können.

 „Wir alle wissen nicht, was im Winter noch kommen wird“

Wie schätzen Sie aktuell die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft in den rheinischen Gemeinden ein?
Nikodemus:
Auf der einen Seite ist die Unterstützung für unsere Flüchtlingsarbeit durch Hauptamtliche und auch ganz viele Ehrenamtliche nach wie vor ungebrochen. Aber natürlich gibt es auch Anfechtungen: Wir alle wissen nicht, was im Winter noch kommen wird. Wenn sich die humanitäre Situation in der Ukraine extremst zuspitzen wird, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, dann wird es weitere Millionen von Flüchtlingen geben. Und das angesichts all der anderen Krisen und der Erstarkung der Rechten. Aber nach meinem Eindruck ist das Engagement in der Kirche trotz aller Fragen, wie wir selbst durch den Winter kommen, noch sehr groß.

Rolle mit knapp 25 000 Namen Verstorbener an den EU-Außengrenzen bis 2021 in der Warschauer Trinitatiskirche.
Eine Rolle mit knapp 25.000 Namen Verstorbener an den EU-Außengrenzen bis 2021 in der Warschauer Trinitatiskirche.

Die Kommunen klagen, dass es kaum Unterbringungsmöglichkeiten gibt.
Nikodemus:
Das kann man auch nicht wegdiskutieren. Aber mich ärgert sehr, dass das eine Entwicklung mit Ansage war. Wir wussten schon im Frühjahr, was auf uns zukommen würde. Doch das Bundesinnenministerium hat leider nichts unternommen. Da hätte mit Ländern und Kommunen schon vieles vorbereitet und abgemildert werden können. Jetzt hangelt man sich sehr schwerfällig von einem Flüchtlingsgipfel zum nächsten. Richtig schlimm wird es, wenn wieder Sporthallen zur Unterbringung genutzt werden müssen. Dann weiß ich auch nicht, wie die Bevölkerung damit umgehen wird.

Was wäre denn aus kirchlicher Sicht wichtig, damit die Flüchtlingsarbeit die Akzeptanz und Unterstützung einer zunehmend dünnhäutigen Gesellschaft nicht verliert?
Nikodemus:
Wir brauchen in allem, was wir tun, einen Kompass, den wir nicht aus dem Blick verlieren. Wir können nicht sagen, dass wir alle aufnehmen müssen, die auf der Flucht sind. Aber wir können sagen, dass wir Menschen nicht unterschiedlich behandeln dürfen. An dieser Stelle müssen wir als Kirche bei uns bleiben und bei dem, wofür wir immer eingestanden haben: Humanität und Nächstenliebe. Und wir können noch stärker deutlich machen, welchen Gewinn wir haben, wenn wir uns diesen Menschen zuwenden. In Polen hat mich diese Haltung mit Blick auf die Menschen aus der Ukraine unglaublich begeistert: Wir wissen, aus welcher Not ihr kommt, und wir haben es im Moment vielleicht auch nicht leicht, aber wir versuchen das gemeinsam durchzustehen. Zu einer solchen Haltung kann die evangelische Kirche sehr viel Ermutigung beitragen.