Martinstift: Stellungnahme der Betroffenen

Dr. Gerhard Stärk und Michael Nollau haben die wissenschaftliche Untersuchung der Vorgänge im ehemaligen Schülerheim Martinstift ins Rollen gebracht. Bei der Vorstellung der Studie am 30. März 2023 in Moers haben beide dazu Stellung genommen. Ihre Wortbeiträge zum Nachlesen:

Gerhard Stärk:

Mein Name ist Gerhard Stärk. Ich lebte ab Ostern 1954 knapp vier Jahre lang im Martinstift, war Missbrauchsopfer von Heimleiter Keubler und Zeuge der Staatsanwaltschaft im Prozess gegen ihn.

Ich bin hoch erfreut, die heutige Veranstaltung im ehemaligen Speisesaal des Martinstifts erleben zu dürfen, und möchte der Stadt Moers zur Nutzung dieses Raums als Konzertsaal der Musikschule von Herzen gratulieren. Die Stadt hat aus einem Haus des Schreckens ein Haus der Kultur, der Zuwendung, der Schönheit gemacht. Es ist gut, dass das Martinstift nicht mehr existiert.

Mein Freund Michael und ich haben ab 2020 eine Studie zu den Ereignissen im Martinstift in den 1950er Jahren erstellt und erste Ergebnisse im Sommer 2021 der Landeskirche übergeben. Der Abschlussbericht stammt vom Dezember 2022. Wir konnten im Archiv der Landeskirche arbeiten und erhielten Zugang zu allen gewünschten Archivalien. Wir sind Ihnen, Herr Pistorius, für Ihr uneingeschränktes Vertrauen dankbar und können heute mit Freude feststellen: Wir haben unser erstes Ziel erreicht. Die Landeskirche hat im Herbst 2021 eine wissenschaftliche Studie bei Professor Kessl, Uni Wuppertal, zum Gewaltgeschehen im Martinstift in Auftrag gegeben, die heute vorgestellt und diskutiert wird und für die wir Herrn Kessl und seiner Arbeitsgruppe auch als Zeitzeugen zur Verfügung standen. Das Jahrzehnte währende Schweigen hat endlich ein Ende gefunden.

Wichtig ist somit: Wir vertreten hier und heute als Betroffene nicht einfach Meinungen, Positionen oder Standpunkte, sondern tragen neben dem selbst Erlebten auch Erkenntnisse und Forderungen vor, die auf einer gründlichen Analyse des damaligen Geschehens aufbauen. Denn wir waren zwar vom Missbrauch des Heimleiters Keubler betroffen, haben sein Gewaltregime persönlich erlebt, hatten aber damals als Jugendliche, fast Kinder, keine Einsicht in das (Verwaltungs-) Geschehen hinter seinen Taten. Dieses haben wir uns nun als Erwachsene – so gut das überhaupt möglich ist – erarbeitet und leiten daraus begründete Schlüsse ab, wer für die Missbrauchsereignisse im Martinstift in den 1950er Jahren Verantwortung zu tragen hat – natürlich nicht im strafrechtlichen, sondern moralischen Sinn.

Michael Nollau:
Die Institution „Martinstift“ in der Institution Innere Mission

Mein Name ist Michael Nollau.

Dass sich Herr Pistorius für das, was uns vor etwa 70 Jahren im „Martinstift“ widerfuhr, entschuldigte und die Initiative für Herr Prof. Dr. Kessls Studie ergriff, ist sehr ungewöhnlich, denn 70 Jahre lang wussten die Innere Mission und die Evangelische Kirche im Rheinland nichts vom „Martinstift“.

Nach der Wiedereröffnung des „Martinstifts“ 1953 verteilte die EKiR Werbebroschüren für das Alumnat. Meine Mutter bekam diese Broschüre über Freunde aus Duisburg, Gerhards Eltern fiel sie in Mülheim an der Ruhr in die Hände, die Mutter eines Mitschülers erhielt sie im Lager Friedland.

Der soziale Status der Eltern, die ihre Hoffnungen mit der Werbung verbanden, erklärt die soziale Herkunft der Zöglinge des Internats, die vorwiegend aus Flüchtlingsfamilien kamen. In vielen Fällen trugen die Mütter allein die Verantwortung, weil ihr Ehemann im Krieg umgekommen war, weil sie aus den Ostgebieten unter kommunistischer Herrschaft vertrieben waren, weil sie und ihre Kinder ausgebombt waren – alle Zöglinge waren Kriegskinder, die Hunger, Verlust der Heimat, Gewalt erfahren hatten und unter den Sorgen, Ängsten, der Hilflosigkeit ihrer Mütter litten.

Auf Grund dieser Erfahrungen, die Pfarrer Ohl sehr vertraut waren, wie Briefe belegen, ergaben sich besondere Verpflichtungen der Betreuung, der Fürsorge, der Förderung – das, was Mütter und Väter von einer christlichen Erziehung erwarteten – zumal sie für den Aufenthalt ihrer Kinder im Martinstift viel Geld zahlen und aus Witwen- und Waisenrenten u. ä. aufbringen mussten.

Doch das Internat unter Aufsicht der Inneren Mission hatte weder das Personal noch schien sich Ohl in irgendeiner Weise verpflichtet zu fühlen, die gegebenen Versprechen einer christlichen Erziehung einzuhalten noch die in der Broschüre geweckten Erwartungen zu erfüllen. Ganz offensichtlich waren der Inneren Mission die Lebensumstände der ihr anvertrauten Kinder ganz und gar gleichgültig, denn es versagte ja nicht allein Ohl, der Leiter der Inneren Mission, die Institution selbst verfügte überhaupt nicht über Voraussetzungen zur Erfüllung der Aufgaben, die sie sich selbst gestellt hatte. Weder der Heimleiter Keubler noch die angestellten Erzieher verfügten über eine pädagogische oder sozialpsychologische Ausbildung, die sie zur Betreuung von Zöglingen eines Alumnats befähigt hätten.

Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass auch nach Keublers Verhaftung und der Installation Pfarrer Fookens als Nachfolger (der übrigens wiederum keine entsprechende Ausbildung hatte) die Prügeleien des Erziehers Schlösser mit Fookens Wissen weitergingen.

Der Schulleiter Wilhelm Marx und sein Kollegium des Gymnasiums „Adolfinum“, das die Kinder besuchten, wussten schon deshalb vom Geschehen im Martinstift, weil derartige Vorfälle in einer Kleinstadt wie Moers sofort allgemein bekannt sind. Der Schulleiter und sein Kollegium handelten ihre Lehrerbürokratie ab, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ein Kind, das in ständiger Angst vor unmotivierten Körperstrafen und nächtlichen Besuchen des Heimleiter in seinem Bett lebt, nicht von sich allein Lücken im Wortschatz des Lateinischen schließen kann – zumal es schulische Unterstützung im Stift nicht fand. Viele mussten ihre Klassen wiederholen.

Noch erstaunlicher ist allerdings das Verhalten des Pfarrers und der Gemeinde der evangelischen Stadtkirche von Moers. Die Zöglinge des Martinstifts besuchten jeden Sonntag entweder den Kindergottesdienst oder den Hauptgottesdienst, jeweils mit Testatpflicht. Als Konfirmanden wurden sie vom Gemeindepfarrer unterrichtet. Weder der Pfarrer noch irgendein Vertreter des Presbyteriums noch ein Mitglied der Gemeinde richteten jemals ein persönliches Wort an uns.

Evident ist somit das Versagen der Institutionen Innere Mission und evangelische Kirche, die seit 70 Jahren nichts wissen und nichts gelernt haben, denn die begonnene Wiedergutmachung findet anonym statt – Betroffene werden nicht von der Institution angesprochen, nicht persönlich angehört, kein Wort wird an sie gerichtet. Falls sie aus welchen Gründen auch immer einer Sühnezahlung für wert befunden werden, erhalten sie wortlos anonym eine Überweisung.

 Internatsleitung, Erzieher, Elternhaus

Keublers Nachfolger als Internatsleiter war Pfarrer Enno Fooken. Die Erzieher, die vor Gericht ihr Unwissen bekannt hatten, obgleich sie mit Keubler und den Zöglingen Zimmer an Zimmer wohnten, wurden nicht ausgetauscht, änderten ihr Verhalten nicht. Der Erzieher Schlösser schlug trotz Ohls Verbot mit Fookens Wissen und Duldung weiterhin ihm missliebige Kinder. Selbstverständlich änderte sich auch nicht das völlige Desinteresse der übrigen Erzieher an ihren Aufgaben.

Verändert hatte sich allerdings die Atmosphäre  – Fälle, in denen Keubler willkürlich Prügelstrafen vollstreckt hatte, wurden nun kaum beachtet. „Laissez-faire“ wurde zum Prinzip und die Keubler-Jahre schienen nicht geschehen zu sein. Vermutlich war Fooken von Ohl instruiert, kein Wort über sie zu verlieren.

Die Lektüre des Schriftverkehrs zwischen Fooken und Eltern zeigt Fookens Pädagogik. Selbst über Belanglosigkeiten wurde nicht mit den Kindern gesprochen, sondern ihre Eltern schriftlich informiert und über vorgesehene Bestrafungen, Verweise oder gar drohende Relegationen unterrichtet. Auf diese Drohungen aus nichtigen Anlässen antworteten ausschließlich Mütter mit dem heiligen Versprechen, ihr Kind werde von nun an auf dem Pfad der Tugend wandeln und sich ein für allemal bessern falls Pfarrer Fooken gnädig noch einmal von einer Bestrafung, vor allem von einer Entlassung absehe.

Aus den Antworten der Mütter spricht ihre Hilflosigkeit und Not – sie waren froh, ihr Kind christlich untergebracht zu wissen, das vermutlich in vielen Fällen auch einen Nachlass der Internatsgebühren von 150 DM monatlich erhielt.

Es wird deutlich, dass die aus den verschiedensten Gründen erforderliche Unterbringung in einem Internat so schwierig und mit so viel Demütigungen verbunden gewesen sein muss, dass Keublers Vergehen den meisten Eltern hinnehmbar erschien, zumal die Verwaltung seine Verfehlungen so geringschätzten, dass sie nicht einmal eine Unterrichtung der Eltern für erforderlich hielt.

Ich denke, dass sich für uns Kinder die Welt der Erwachsenen in ihrer Unberechenbarkeit, Verlogenheit und Doppelmoral so klar entlarvt hatte, dass wir sie negierten, ihre Gebote und Verbote kaum wahrnahmen, sie missachteten, in unsere eigenen Welt lebten.

Die Vergesslichkeit der Institution

Trotz der in den sechziger Jahren aufkommenden Kritik der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse warf die evangelische Kirche keinen Blick in ihre Archive. Unverständlich bleibt, dass trotz dieser Liberalisierung der Öffentlichkeit niemand es in der Kirchenverwaltung als Verpflichtung ansah, der Gewalt und dem Missbrauch in evangelischen Schüler- und Erziehungsheimen nachzugehen.

Verständlich ist, dass sich keiner der Betroffenen an die Öffentlichkeit wandte, denn sie hatten erfahren, dass an ihrem Schicksal kein Interesse der Verantwortlichen bestand. Das Beispiel „Martinstift“ lehrt nicht nur, wie die Kirche verfuhr, sondern auch das allgemeine Desinteresse nach dem Urteil über „Das Scheusal von Moers“ wie die BILD-Zeitung zutreffend titelte.

Fast siebzig Jahre später erfuhr Herr Präses Pistorius vom „Martinstift“. Er übernahm sofort Verantwortung und veranlasste Herrn Prof. Dr. Kessls Studie. Dafür sind Herr Dr. Stärk und ich ihm sehr, sehr dankbar.

Dem Ausdruck einer persönlichen Verantwortung muss unserer Ansicht nach auch ein Ausdruck der Verantwortung der Institution entsprechen.

 

Gerhard Stärk:

Ich fasse zusammen:

1. Der Rahmen des Geschehens: Träger des Evangelischen Schülerheims Martinstift Moers war die Innere Mission. Geschäftsführender Direktor der Inneren Mission und als Chef der Verwaltung verantwortlich für ihre rund einhundert Einrichtungen, war Pfarrer Dr. Otto Ohl. Heimleiter des Martinstifts war Studienrat Johannes Keubler. Dieser wurde vom Landgericht Kleve wegen Missbrauchs von Abhängigen zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, sein Revisionsantrag verworfen. Studienrat Keubler steht somit als Haupttäter fest. Nach seiner Entlassung folgte ihm Pfarrer Fooken als Heimleiter.

2. Die Verwaltung der Inneren Mission: Die Verwaltung der Inneren Mission in Langenberg ist ihrer Organisationsverantwortung für das Martinstift und seine Bewohner zwischen 1953 und 1958 nicht gerecht geworden und erfüllte ihre Informations-, Aufsichts- und Fürsorgepflichten nicht. Die gesamte Organisation war auf die Person des Geschäftsführenden Direktors ausgerichtet. Sie war eine Autokratie ohne Gewaltenteilung und Kontrolle. Zudem fehlte jegliche Form der Zuwendung zu den Kindern und Jugendlichen. Das ist insbesondere deshalb unbegreiflich, weil allen Erwachsenen unsere in der Regel traurige Familiengeschichte (Krieg, Tod, Flucht, Vertreibung, Scheidung …) sehr wohl bekannt war.

3. Die Arbeitsweise der Verwaltung: Im Vordergrund des Geschehens stand die aktive Verhinderung von jeglicher Form der Aufsicht bzw. Intervention von außen (durch Kuratorium, Heimaufsicht, Eltern, Provinzialausschuss als dem obersten Beschlussgremium der Inneren Mission) und damit letztlich die Verharmlosung und Vertuschung der Ereignisse. Anstatt das (als solches durchaus erkannte) Missbrauchsgeschehen umgehend zu beenden, wurde es durch die Passivität der Verwaltung belegbar verlängert. Heimleiter Keubler wurde durch den Vater eines Opfers bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Eine Anzeige durch die Innere Mission erfolgte erst zwei Tage später – nur widerwillig und wurde, auch belegbar, zudem geleugnet. Pfarrer Ohl hatte uneingeschränkte Macht und nutzte sie auch. Aber: Er scheute die Übernahme von Verantwortung. Die jugendlichen Opfer der sexuell motivierten Gewalt mussten vor Gericht aussagen. Mit dem Urteilsspruch des Revisionsgerichts war für die Innere Mission und die Landeskirche der Fall abgeschlossen. Eine Aufarbeitung erfolgte nicht. Der Fall geriet in völlige Vergessenheit. Niemand der heute Verantwortlichen wusste davon. Die Opfer blieben mit ihren Erlebnissen ein Leben lang allein.

4. Konzeption und Betrieb des Schülerheims: Beide waren in keiner Weise tragfähig. Es gab kein Profil, kein qualifiziertes Personal, keine externe oder interne Aufsicht und Kontrolle, keine Schulung des Personals, keine angemessene Kommunikation, keine einzuhaltenden Regeln oder Normen, keine Vorsorge gegen Missbrauch. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass unter diesen Umständen das Martinstift erst im Jahr 1969 geschlossen wurde. Meines Erachtens hätte es, so wie es organisiert war und betrieben wurde, nicht betrieben werden dürfen.

 

Unsere Schlüsse, Vorschläge, Wünsche, Forderungen als Betroffene an die Evangelische Kirche im Rheinland

1. Breite Information der Öffentlichkeit über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie von Prof. Kessl u. a. „Aufarbeitung der gewaltförmigen Konstellation der 1950er Jahre im Evangelischen Schülerheim Martinstift in Moers“ (vielleicht mit einem Vorwort des Präses der Landeskirche …?) Das heißt: Einstellen der Studie in das Internet. Einbindung der Studie in das Projekt ForuM der Evangelischen Kirche in Deutschland. Besprechung in den kirchlichen Medien. (also Medienarbeit)

2. Erarbeitung eines Regelwerks durch die Evangelischen Kirche im Rheinland zur Verhinderung von Missbrauch in den Einrichtungen der Landeskirche und der Diakonie, geplante bzw. bereits realisierte Maßnahmen wie Schutzkonzepte, d. h.: regelmäßige Informationen auch in den nächsten Jahren … (Vorsorge ist auch medial eine Daueraufgabe.)

3. Institutionelle Verknüpfung der Einrichtungen der Landeskirche und der Diakonie mit den örtlichen Kirchengemeinden und weltlichen Gemeinden. (örtliche Vernetzung, keine closed shops)

4. Entschuldigung bei den Missbrauchsopfern des Martinstifts aus der Keubler-Zeit (rund 70 Personen) und zwar a.) bei den mit Adresse bekannten persönlich mit dem Angebot von Entschädigungsleistungen. b.) bei den ohne Adresse gebliebenen zumindest durch Veröffentlichung in der überörtlichen Presse bzw. anderen Medienebenfalls mit dem Angebot von Entschädigungsleistungen, noch besser aber c.) durch Recherchen nach dem Verbleib ehemaliger Opfer (rund 60 Personen). Das dürfte in vielen Fällen selbst heute noch möglich sein. (Verantwortungsübernahme, symbolisch)

5. Änderung des Verfahrens auf Anerkennung einer Entschädigung. Herausholen aus der Anonymisierung, die eine Fortsetzung des vertrauten Verschweigens ist.

6. Einrichtung eines Lehrstuhls für Missbrauchsstudien (o. ä.) an einer sozialpädagogisch orientierten FH. Missbrauchsfälle, wie der in Moers, dürfen nicht – wie geschehen – einfach vergessen werden. Sie müssen dokumentiert, systematisch wissenschaftlich aufgearbeitet, archiviert und für zukünftige Ausbildungszwecke genutzt werden. (Lernen für die Zukunft)

7. Abschluss/Einführung/Ausweitung einer Berufshaftpflichtversicherung für die Träger von Heimen zur Absicherung möglicher Entschädigungsforderungen von Missbrauchsopfern. Einrichtung einer Schiedsstelle zur Regulierung von Missbrauchsfällen. (Vorsorge)

Vorsorge, Vernetzung, Verantwortungsübernahme, Lernen für die Zukunft. Das sind meine Stichworte. Der Ball liegt jetzt bei Ihnen, Herr Pistorius.