„Wir wissen, dass es noch lange nicht bei allen gut aussieht“

  • 16.1.2022
  • Wolfgang Thielmann
  • Wolfgang Thielmann

„Wir mussten uns jeden Tag wieder neu aufraffen, Schlamm zu schippen, auszuräumen, Menschen zu trösten und Tote zu beweinen“, erzählt Pfarrerin Claudia Rössling-Marenbach. Und sie erwähnt in ihrer Predigt die vielen Helferinnen und Helfer, „sie brachten Hoffnung ins Tal“. Rössling-Marenbach spricht im Gottesdienst zum Gedenken an die Flutnacht der Ahr am 14. Juli 2021 – vor genau  einem halben Jahr.

Sie berichtet von einer Frau, die sich freute, dass sie mit ihrer Hausrenovierung auf der Zielgeraden angelangt war: „Was für ein schönes Zeichen: das Lächeln, das man zurückgeben kann, weil es wieder eine Zukunft gibt. Wir wissen aber, dass es noch lange nicht bei allen gut aussieht.“ Vertreterinnen und Vertreter der Diakonie-Katastrophenhilfe sind mit ihren blauen Jacken da, sie werden später Fürbitten sprechen. Ein Kamerateam filmt für Tagesschau und Lokalfernsehen. Fackeln umgrenzen den Vorhof, auf dem der Gottesdienst coronabedingt stattfindet. Ihr Schein wirft sanftes Licht in die Abenddämmerung.

Die Auferstehungskapelle in Ahrbrück.

Die Kirche blieb heil, das Gemeindehaus nicht

25 Menschen haben sich in der Januarkälte vor der Auferstehungskapelle im Dorf Ahrbrück versammelt, knapp 20 Kilometer vor Bad Neuenahr, an der Zufahrtsstraße zum Nürburgring. Vor einem halben Jahr drang der angeschwollene Kesselinger Bach hinter der Kapelle, der wenige hundert Meter weiter in die Ahr mündet, in das Gemeindehaus nebenan ein. Jetzt muss der Boden erneuert werden. Das nur wenig höher gelegene Kirchengebäude blieb heil.

Noch ist kein Gras über die Verwüstungen gewachsen

Unten im Ort mäandert die Ahr in flach planierten Auen von nackter Erde. Noch ist kein Gras über die eingeebneten Verwüstungen gewachsen. Schwere Schredder häckseln Tonnen von Treibholz. Die Lastwagen, die Holz und angespülten Unrat wegbringen, legen einen Schlammfilm auf die Straßen, der Rand- und Mittelstreifen verdeckt. Noch sind die unteren Geschosse der meisten Häuser im Tal unbewohnbar. Niemand weiß, wann die Ahrtalbahn wieder fährt, die in Ahrbrück endete. Die Flut hat die meisten Brücken und Kilometer Trasse mitgerissen. Im August war Präses Dr. Thorsten Latzel zu Besuch und hatte am Fluss zusammen mit Rössling-Marenbach eine Andacht gefeiert – auf einem Campingplatz, von dem nichts mehr übrig geblieben war.

Ein Flutkunstwerk erinnert an die Todesopfer

Auf dem Altar vor der Auferstehungskapelle steht jetzt das Flutkunstwerk des Kunstschmieds Rüdiger Schwenk: eine Scheibe mit 134 Nagelköpfen, einer für jedes Todesopfer. In der Mitte erhebt sich ein Kreuz, umschlungen von einer goldenen Rose, dem Zeichen der Hoffnung. Fluthelfer haben es ersteigert, und jetzt, sagt Schwenk, „soll es in den Kirchen aller Orte gezeigt werden, wo Menschen umgekommen sind“. Rössling-Marenbach wird es noch oft sehen. Allein in ihrem Gemeindebezirk, einem der flächengrößten im Rheinland, liegen neun Flutorte.

Die Pfarrerinnen Claudia Rössling-Marenbach (links) und Elke Smidt-Kulla vor der Flutgedenkplastik des Kunstschmieds Rüdiger Schwenk.

„Von guten Mächten“ erklingt in der Dämmerung

Pfarrerin Elke Smidt-Kulla ist aus Bad Neuenahr-Ahrweiler gekommen. Noch wenige Tage vor der Flut hat sie im Juli mit einem fröhlichen Fest Kinder in der flach und friedlich dahinfließenden Ahr getauft. Sie berichtet vom Schmuck- und Antiquitätengeschäft ihres Mannes in der Ahrweiler Altstadt, das ebenfalls den Wassermassen zum Opfer fiel. „Wir sind unterwegs mit den Menschen, die sich freuen. Aber auch mit denen, die keine Perspektive sehen“, sagt sie und zitiert eine Botschaft Gottes im alttestamentlichen Buch des Propheten Jeremia: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Ihr Sohn Till am Saxophon und die Neuenahrer Kantorin Andrea Stenzel intonieren in der Dämmerung das Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“. Der NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer hat es im Gefängnis gedichtet. Hier, wieder in einer Notlage, lässt sich die Tiefe des Trostes neu erahnen.

Pfarrerin Elke Smidt-Kulla bringt dem Künstler Rüdiger Schwenk Licht.

„Gib uns die Sicherheit zurück, die wir brauchen zum Leben“

Jetzt nehmen alle die Kerze im Glas in die Hand, die sie am Eingang bekamen. Smidt-Kulla entzündet einen Span an einer Altarkerze, trägt ihn durch die Reihe und bringt das Licht: ihrer Kollegin, dem Künstler, den Gemeindemitgliedern. „Gib uns die Sicherheit zurück, die wir brauchen zum Leben“, sagt eine Diakoniemitarbeiterin kurz darauf in ihrer Fürbitte. Till greift zur Blockflöte. Er und Andrea Stenzel begleiten das Schlusslied „Der Mond ist aufgegangen“. Kerzenschein fällt auf die Liedblätter. Das Lied können alle mitsingen. Besonders die zweite Strophe über die Dämmerung, die stille Kammer, „wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt“. Das Fernsehteam hat sich ins Auto auf dem nahen Parkplatz zurückgezogen, die Übertragung läuft schon. Morgen werden sie einen weiteren Gedenkgottesdienst feiern, in Bad Neuenahr, wo sich früher in der zweiten Januarwoche die Synode der rheinischen Kirche versammelte.